EPA: Auslegung des Patentanspruchs – eine Neu-Justierung?
Zu der Auslegung des Patentanspruchs ist das Bonmot "Das Patent ist sein eigenes Wörterbuch" allseits bekannt. Dieser Ausdruck beschreibt die Leitlinie, dass die in den Patentdokumenten verwendeten Begriffe ihre normale Bedeutung im einschlägigen Stand der Technik haben sollten, es sei denn, die Beschreibung gibt dem Begriff eine besondere Bedeutung.
In Artikel 69 EPÜ heißt es dazu, dass der Schutzbereich eines europäischen Patents oder einer europäischen Patentanmeldung durch die Ansprüche bestimmt ist. Zur Auslegung der Ansprüche sind jedoch die Beschreibung und die Zeichnungen heranzuziehen.
Aber ist dieser jetzt durch die Entscheidung des EPA Pouch with inner container, T 0169/20 in Frage gestellt?
EPA T 0169/20: eine bemerkenswerte Entscheidung
In dieser Debatte über die Anspruchsauslegung sei „viel Verwirrung gestiftet worden“, stellte in diesem Kontext die Beschwerdekammer des EPA fest mit der aktuellen Entscheidung T 0169/20 (Pouch with inner container/Reckitt) vom 23.1.2023.
In der Sache ging es in diesem Fall um den Behälter einer verpackten Waschmittelzusammensetzung (Europäisches Patent Nr. 2 892 992) und um die Frage, ob der Wortlaut des Anspruchs auch Ausführungsformen umfasste, bei denen der zweite Behälter in einer anderen Phase der Waschmittelzusammensetzung (z. B. flüssig, fest oder pulverartig) enthalten war.
Die Patentinhaberin machte geltend, dass, wenn ein Anspruch zweideutig sei und Zweifel darüber bestünden, wie er auszulegen sei, die Beschreibung zur Klärung der Zweideutigkeit herangezogen werden sollte, um die Patentfähigkeit zu beurteilen. Die Patentierbarkeit sei auf der Grundlage des Gegenstands der Ansprüche bei Auslegung der Beschreibung und der Zeichnungen im Einklang mit Artikel 69 (1) EPÜ zu beurteilen (siehe auch Entscheidung T 303/94 (Gründe 4.3 und 4.4)). Zudem wies die Patentinhaberin darauf hin, dass es in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern offenbar widersprüchliche Ansätze in der Auslegung des Patentanspruchs gebe.
Dem widersprach die Beschwerdekammer des EPA und setzte sich mit einer ausführlichen Erörterung zur Auslegung des Patentanspruchs auseinander.
Das Ergebnis ist bemerkenswert: laut vorliegender Entscheidung Pouch with inner container, T 0169/20 ist die Beschreibung nur in Ausnahmefällen zur Auslegung der Ansprüche heranzuziehen, in denen der Gegenstand der Erfindung und/oder ihr technischer Zusammenhang geklärt werden muss, und nur dann, wenn die Erfindung in der Beschreibung der beanspruchten Erfindung entspricht. Zudem sei Artikel 69 EPÜ nicht die alleinige Richtschnur für die Auslegung der Ansprüche gemäß dem EPÜ.
Auslegung des Patentanspruchs: nach Art. 69 EPÜ oder 84 EPÜ?
Im Juli 1990 hat eine Technische Beschwerdekammer festgestellt, dass die Bestimmung des Artikels 69 (1) EPÜ auf die Auslegung der Ansprüche für die Beurteilung der Patentierbarkeit anwendbar ist (T 16/87). Und in der Entscheidung T 1473/19 vom 30. September 2022 schlussfolgerte die Kammer, dass Artikel 69 (1) EPÜ auf die Auslegung der beanspruchten Merkmale bei der Beurteilung der Artikel 54, 56, 83 und 123 (2) EPÜ anwendbar sei.
In der hier vorgestellten Entscheidung Pouch with inner container aber erklärte die Beschwerdekammer des EPA, sie sei mit den Feststellungen in diesen genannten Entscheidungen nicht einverstanden. Die Tatsache, dass die Bestimmungen des Artikels 84 EPÜ kein Einspruchsgrund sind, stehe ihrer Gültigkeit als Rechtsgrundlage für die Entwicklung von Argumenten in Einspruchs- oder Beschwerdeverfahren nicht entgegen. Die Kammer ist auch nicht der Meinung, dass Artikel 69 EPÜ die einzige Richtschnur für die Auslegung der Ansprüche im EPÜ darstellt.
Vielmehr sei der im Rahmen der Patentierbarkeit zu beurteilende Gegenstand die "Erfindung" – die nach Artikel 84 EPÜ und Regel 43 (1) EPÜ der Kombination der technischen Merkmale in den Ansprüchen entspricht. Nur wenn zum Verständnis der Bedeutung dieser Merkmale eine Hilfe notwendig wäre, könnte der Wortlaut der Beschreibung in Ausnahmefällen die Auslegung des Patentanspruchs unterstützen. Dies, so erklärte die Beschwerdekammer des EPA, sei „bewährte Praxis“. Ist hingegen der Wortlaut eines Anspruchs an sich klar und technisch sinnvoll, so sei es weder notwendig noch gerechtfertigt, ihn mit Unterstützung durch die Beschreibung auszulegen.
Genau darum handele es sich in dem vorliegenden Fall, entschied die Beschwerdekammer des EPA. Es gebe daher keine Grundlage für die Aufrechterhaltung des Patents in irgendeiner Form.
Fazit
Ist diese Entscheidung Pouch with inner container eine Neu-Justierung zu der Auslegung des Patentanspruchs vor dem Europäischen Patentamt? Rückt dies den Artikel 69 EPÜ und die übliche Praxis, zur Patentauslegung Beschreibungen und Zeichnungen hinzuziehen, in den Bereich seltener Ausnahmefälle?
Man darf gespannt sein auf die nächsten Entscheidungen zu dieser Thematik.
Patentanmelder sollten in jedem Fall noch genauer auf die Ausarbeitung der Patentansprüche achten als bisher schon. „Drafting“ heißt dieser Prozess im Englischen, und das trifft es gut: es ist eine genaue und gleichzeitig gestalterische Aufgabe.
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